Wegweisendes Urteil des EGMR betreffend die Umweltverschmutzung in der «Terra dei Fuochi»-Region

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte in einem Urteil  vom 30. Januar 2025 fest, dass Italien das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) verletzt hat, indem es die Beschwerdeführer:innen aus der Region Kampanien nicht vor der illegalen Ablagerung und Verbrennung von Abfällen schützte, obwohl das Problem seit Jahren bekannt und weit verbreitet war.[1] Dies wurde oftmals durch organisierte kriminelle Gruppen sowie auf privatem Land durchgeführt. Die Verschmutzung, die durch diese Praktiken entstand, betrifft eine Region, die wegen der häufigen Müllverbrennungen auch «Terra dei Fuochi» (Land der Feuer) genannt wird und 90 Gemeinden sowie ca. 2.9 Millionen Einwohner umfasst. Die Beschwerdeführer:innen zeigten vor Gericht auf, dass die Verschmutzung zu einer steigenden Anzahl Krebserkrankungen sowie kontaminiertem Trinkwasser führte.

Dieses Urteil ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Einerseits ist es das erste Mal, dass der EGMR ein staatliches Unterlassen, gegen die Umweltverschmutzung vorzugehen, als Verletzung von Art. 2 EMRK qualifizierte (vgl. dazu §§ 383-468). Andererseits führte der Gerichtshof im vorliegenden Fall ein Piloturteilsverfahren gemäss Art. 61 seiner Verfahrensordnung durch (vgl. §§ 487-489; unter Hinweis auf Art. 46 EMRK). Dieses Verfahren ist möglich, wenn sich aus dem der Beschwerde zugrundeliegenden Sachverhalt ergibt, dass in der betroffenen Vertragspartei ein strukturelles oder systembedingtes Problem oder ein vergleichbarer sonstiger Missstand besteht, aufgrund dessen weitere Beschwerden erhoben wurden oder möglich sind. Der Gerichtshof begründete sein Vorgehen damit, dass das Problem der «terra dei fuochi» ein anhaltender Missstand ist, der dem Staat seit Jahrzehnten bekannt ist, die staatliche Reaktion darauf jedoch systemisch mit Mängeln behaftet ist (§ 490). Die grosse Anzahl Menschen, die davon betroffen ist, weitere ähnliche, bereits hängige Fälle und das dringende Bedürfnis, schnell Abhilfe zu schaffen, waren weitere Faktoren, die den Gerichtshof zur Anwendung des Piloturteilverfahrens bewegten (§ 492). 

Im Piloturteil wird auch die Art der Abhilfemassnahmen erläutert, welche die betroffene Vertragspartei aufgrund des Urteilsdispositivs auf innerstaatlicher Ebene zu treffen hat (vgl. Art. 61 Abs. (3) Verfahrensordnung des EGMR). In diesem Zusammenhang ordnete der Gerichtshof verschiedene Massnahmen an, welche innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden müssen (§ 501). Erstens sollen die staatlichen Behörden in Abstimmung mit den relevanten lokalen, regionalen und/oder nationalen Akteuren eine Strategie entwickeln, um dieses Problem zu bekämpfen. Diese Strategie soll alle bestehenden oder geplanten Massnahmen zusammenfassen und klare Zeitpläne für die Umsetzung sowie die Festlegung der erforderlichen Mittel und deren Zuweisung an die zuständigen staatlichen Akteure enthalten (§§ 494-498). Zweitens sollen die staatlichen Behörden einen unabhängigen Mechanismus schaffen, der die eingeführten Massnahmen überwacht und die Einhaltung der Zeitpläne bewertet, wobei seine Ergebnisse öffentlich sein müssen (§ 499). Schliesslich soll der Staat eine öffentliche Plattform schaffen, wo alle relevanten Informationen sowie die ergriffenen Massnahmen ersichtlich sind (§ 500). 

Dies ist das erste Mal, dass der EGMR im Bereich des Umweltschutzes so klare Massnahmen aufstellt. Gemäss Experten setzt diese Rechtsprechung einen neuen Standard bezüglich der staatlichen Pflicht, die Bevölkerung vor Umweltverschmutzung zu schützen. Insbesondere durch die Anordnung eines Überwachungsmechanismus fordert der EGMR, dass die angeordneten Massnahmen auch effektiv umgesetzt werden. Dieser neue Ansatz könnte auch in zukünftigen Fälle wieder aufgegriffen werden und somit die Verantwortlichkeit der Staaten in Bezug auf den Umweltschutz nachhaltig verändern sowie dazu führen, dass mehr Prozesse in diesem Bereich angestrengt werden. 

Vgl. für eine Zusammenfassung des Urteils hier; vgl. ebenfalls hier und hier

Alexandra Glarner


[1] Cannavacciuolo und Andere gegen Italien, Urteil vom 30. Januar 2025, Nr. 51567/14, 39742/14, 74208/14, 21215/15.

Abschluss der öffentlichen Anhörungen des Internationalen Gerichtshofs über die Verpflichtungen der Staaten in Bezug auf den Klimawandel

Am 29. März 2023 beantragte die UNO-Generalversammlung beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ein Rechtsgutachten betreffend die Verpflichtungen der Staaten in Bezug auf den Klimawandel. Es ist das erste Mal, dass sich das höchste Gericht der Welt mit dieser Thematik auseinandersetzt und klären wird, welche Verpflichtungen der Staaten sich aus verschiedenen völkerrechtlichen Rechtsquellen ergeben. Nach Abschluss der schriftlichen Phase fanden vom 2. bis zum 13. Dezember 2024 öffentliche Anhörungen dazu in Den Haag statt. Daran beteiligten sich eine rekordhohe Anzahl von 96 Staaten und 11 Organisationen.

Das Rechtsgutachten wird die zwei von der Generalversammlung gestellten Fragen beantworten, die sie in ihrer Resolution übermittelte: Erstens sollte der IGH klären, welche völkerrechtlichen Verpflichtungen den Staaten im Zusammenhang mit dem Schutz des Klimasystems und anderer Teile der Umwelt vor anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen gegenüber Staaten sowie gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zukommen. Die zweite Frage zielte auf die Rechtsfolgen für Staaten ab, welche dem Klima und anderen Teilen der Umwelt erheblichen Schaden zugefügt haben, insbesondere in Bezug auf kleinere Inselstaaten sowie Völker und Individuen heutiger und zukünftiger Generationen, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind bzw. sein werden. Es handelt sich folglich um zwei sehr generelle Fragen, die eine Vielzahl von weiteren Fragen aufwerfen.

Folglich umfassten auch die Beiträge der Staaten verschiedene Punkte, wobei sich grob zwei Lager unterscheiden lassen. Kleinere Staaten des globalen Südens – insbesondere Inselstaaten – argumentieren folgendermassen: erstens ergeben sich sowohl aus völkerrechtlichen Verträgen als auch aus Völkergewohnheitsrecht Verpflichtungen im Klimabereich, die einzelnen Staaten zugerechnet werden können. Ausserdem sei das völkergewohnheitsrechtliche Schädigungsverbot («no harm rule») auch auf den Klimawandel anwendbar. Zweitens könne die Kausalität zwischen dem Ausstoss von Emissionen und den Auswirkungen des Klimawandels wissenschaftlich nachgewiesen werden. Drittens sollten auch die Menschenrechte – insbesondere das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt – bei der Auslegung der völkerrechtlichen Verpflichtungen berücksichtigt werden. Viertens müsse dabei auch den historischen Emissionen der Industriestaaten Rechnung getragen werden, da diese im Wissen um die schädlichen Folgen von Treibhausgasemissionen jahrzehntelang untätig geblieben seien. Schliesslich fänden sich im bestehenden Völkerrecht verschiedene Rechtsfolgen, wie bspw. Kompensationspflichten, die vorliegend anwendbar seien.

Diesen Argumenten entgegnen Staaten wie bspw. Russland, China, die USA, Saudi Arabien, das Vereinigte Königreich, Kanada, Deutschland, Australien und weitere, dass sich das auf den Klimawandel anwendbare Völkerrecht nur aus den spezifischen Verträgen (als «lex specialis») ergibt und anderes Völkerrecht wie das Recht der Staatenverantwortlichkeit oder die Menschenrechte nicht – oder nur subsidiär – anwendbar ist. Zweitens sei das obengenannte Schädigungsverbot nicht anwendbar und die Kausalität im Klimabereich könne nicht abschliessend festgestellt werden. Drittens argumentieren einige dieser Staaten, dass sie nur für Emissionen verantwortlich seien, die ab dem Inkrafttreten von Klimaabkommen ausgestossen worden seien. Viertens wurde teilweise argumentiert, dass das Pariser Abkommen primär politischer Natur sei und Lösungen für die Klimakrise weiterhin kollektiv auf dem politischen Weg gefunden werden sollten, eine individuelle Verantwortlichkeit der Staaten also unter geltendem Völkerrecht nicht denkbar ist. Schliesslich sollten die Fragen der UNO-Generalversammlung eng ausgelegt werden, was ebenfalls auf menschenrechtliche Verpflichtungen in Bezug auf den Klimawandel zutrifft – eine Anwendbarkeit von Rechten zukünftiger Generationen sei in diesem Zusammenhang eher abzulehnen.

Wie die Richter:innen diese Fragen beantworten werden, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, es ist jedoch begrüssenswert, dass sich trotz Uneinigkeit viele Staaten für eine Stärkung der völkerrechtlichen Verpflichtungen im Klimabereich aussprachen.

Erwähnenswert ist auch, dass das Rechtsgutachten des Internationalen Seegerichtshofs sowie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall KlimaSeniorinnen[1] immer wieder Erwähnung fanden – dies illustriert die Bedeutung solcher Urteile bzw. Rechtsgutachten. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch zu erwähnen, dass die Schweiz, gegen die das Urteil des EGMR gerichtet war, das KlimaSeniorinnen-Urteil nicht erwähnte. Sie schien, sich davon distanzieren zu wollen, indem ihre Vertreter:innen betonten, dass aufgrund des aktuellen Völkerrechts keine Verpflichtung der Staaten bestehe, ein bestimmtes Emissionsbudget zu definieren und einzuhalten.[2] Dass die Schweiz kein Treibhausgasbudget festgesetzt hatte, war einer der Aspekte, die den EGMR zur Feststellung einer Verletzung von Art. 8 EMRK führten.[3] Es erscheint stossend, dass die Schweiz in internationalen Foren Ausführungen macht, die im Gegensatz zu diesem für sie bindenden Urteil stehen.

Die öffentlichen Anhörungen endeten mit vier Fragen von Richter:innen[4]: Die erste Frage hatte den Umfang der Verpflichtung von Staaten, in deren Hoheitsgebiet Treibhausgase hergestellt werden, zum Gegenstand. Die zweite Frage betraf die Auslegung von Art. 4 des Pariser Abkommens, insbesondere ob der Gegenstand und das Ziel des Pariser Abkommens darauf Auswirkungen haben. Die dritte Frage betraf den Inhalt des Rechts auf eine saubere und gesunde Umwelt sowie dessen Beziehung zu anderen Menschenrechten, welche für den Klimaschutz relevant sind. Zuletzt fragte eine Richterin, welche Bedeutung die Erklärungen einiger Staaten haben, die der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und dem Pariser Abkommen unter der Voraussetzung beigetreten sind, dass keine Bestimmungen in diesen Übereinkommen als Abweichung von Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts oder als Ansprüche oder Rechte auf Entschädigung oder Haftung aufgrund der nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels ausgelegt werden können. Diese Fragen konnten von allen Delegationen beantwortet werden, die dies wünschten. Sie zeigen, dass sich die Richter:innen detailliert mit der Materie auseinandergesetzt haben.

Dieses Rechtsgutachten ist zwar nicht bindend für die Staaten, zeigt aber auf, wie der IGH das Völkerrecht in Bezug auf den Klimawandel auslegt. Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sowohl in Bezug auf Streitigkeiten vor diesem Gericht als auch vor nationalen sowie anderen internationalen Gerichten eine grosse Rolle spielen wird. Ebenfalls könnte es zur Weiterentwicklung des Völkerrechts führen. Experten sprechen deshalb von einem historischen Verfahren. Nun beginnt die Beratung des Gerichts. Wann das Rechtsgutachten veröffentlicht wird, steht noch nicht fest, es könnte aber bereits im 2025 sein. In diesem Jahr erwartet wird auch das Rechtsgutachten des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welches ebenfalls den Klimawandel betrifft.

Für die Protokolle der Anhörungen siehe hier. Für eine Zusammenfassung der Anhörungen siehe hier. Für eine Diskussion der Anhörungen siehe hier. Für die Diskussion der ersten beidem Fragen der Richter:innen siehe hier. Für weitere Informationen zum Hintergrund des Verfahrens siehe hier. Für weitere Informationen zu den schriftlichen Stellungnahmen siehe hier.

Alexandra Glarner


[1] Vgl. bspw. das Protokoll der Anhörungen vom 4. Dezember 2024, 3 p.m. (CR 2024/40), insbesondere die Ausführungen der Vertreter:innen von Fiji (S. 73, N 29), Ecuador (bspw. S. 19, N 11; S. 20, N 17; S. 25, N 17; S. 27 4 f.) und Spanien (S. 32, N 6 f.; S. 37, N 15) <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20240412-ora-02-00-en.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).

[2] Vgl. Das Protokoll der Anhörung vom 11. Dezember 2024, 3 p.m. (CR 2024/50), S. 52, N 32 ff., <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20241211-ora-02-00-bi.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).

[3] Verein Klimaseniorinnen Schweiz und Andere gegen die Schweiz, 9. April 2024, Nr. 53600/20 (GK), § 550(a), § 570 ff.

[4] Vgl. Das Protokoll der Anhörung vom 13. Dezember, 3 p.m. (CR 2024/54), S. 39 ff., <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20241213-ora-02-00-bi.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).

Sieg für indigene Gemeinschaften aus dem Amazonasgebiet vor dem kolumbianischen Verfassungsgericht 

Im Juli 2024 erklärte das kolumbianische Verfassungsgericht ein Vertrag über Emissionsgutschriften im Amazonas für ungültig. Emissionsgutschriften werden von Unternehmen oder Ländern gekauft, um ihren CO2-Ausstoss zu kompensieren. Die Effektivität dieser Art der Kompensation von CO2-Emissionen ist jedoch umstritten. 

Sechs indigene Gemeinschaften aus der abgelegenen Region Pirá Paraná im Departement Vaupés hatten im Jahr 2022 gegen das in den USA ansässige Unternehmen Ruby Canyon Environmental und die kolumbianische Firma Masbosques – welche als Vermittlerin gehandelt hatte – geklagt. Die Gemeinschaften hatten vor Gericht geltend gemacht, dass ihnen dieser Vertrag ohne ihre Zustimmung und auf betrügerische Weise aufgezwungen worden sei: Die Unternehmen hätten den Verkauf von Emissionsgutschriften mit Personen ausgehandelt, die dazu nicht befugt gewesen seien. Somit sei ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre territoriale Autonomie verletzt worden. Gemäss AFP hatte der Vertrag den Schutz vor Abholzung eines Gebiets von 7100km2 zum Gegenstand und die Emissionsgutschriften wurden für 3.8 Millionen Dollar verkauft. 

Das Gericht hiess die Klage der indigenen Völker gut und wies die rechtmässigen Repräsentanten der betroffenen Gemeinschaften an, sich innerhalb von sechs Monaten zu entscheiden, ob sie eine neue Vereinbarung mit den Unternehmen eingehen wollen oder nicht. Andernfalls müssten die kolumbianischen Behörden sicherstellen, dass das Projekt nicht mehr auf dem betroffenen Gebiet durchgeführt wird. Gemäss der NGO «Centro Latinoamericano de Investigación Periodística» handelt sich um den ersten Fall dieser Art in Kolumbien.

Das ganze Urteil finden Sie hier (spanisch). Für weitere Informationen siehe hier (englisch) oder hier (französisch).

Alexandra Glarner

Der Internationale Seegerichtshof verpflichtet Staaten zur Reduktion von CO2-Emissionen

Am 21. Mai 2024 veröffentlichte der Internationale Seegerichtshof (ISGH) sein Rechtsgutachten zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten aufgrund des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (UN-Seerechtsübereinkommen) in Bezug auf den Klimawandel.

Das Rechtsgutachten wurde durch die Kommission der kleinen Inselstaaten für Klimawandel und Völkerrecht (COSIS) beantragt, welche Inseln wie Tuvalu, Palau, Vanuatu sowie Antigua und Barbuda zu ihren Mitgliedern zählt. Es befasst sich mit mehreren fundamentalen Fragen zur Anwendung des UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 im Zusammenhang mit dem Klimawandel, einschliesslich der Wechselwirkung zwischen diesem Übereinkommen und den anderen Abkommen im Bereich des Klimaschutzes und präzisiert die Verpflichtungen der Staaten unter dem UN-Seerechtsübereinkommen in Bezug auf die Reduktion des Ausstosses von klimaschädlichen Treibhausgasen. Das UN-Seerechtsübereinkommen wurde von 169 Parteien ratifiziert, unter anderem durch die EU, China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika. 

Der ISGH hielt in seinem Rechtsgutachten einstimmig fest, dass Treibhausgase zur Versauerung und Erwärmung der Meere beitragen und somit eine Verschmutzung der Meeresumwelt gemäss Artikel 1(1(4)) des UN-Seerechtsübereinkommen darstellen [§ 441 (3a)]. Der ISGH statuiert darin zudem eine strenge Sorgfaltspflicht der Staaten, den Ausstoss von Treibhausgasen soweit möglich zu verhindern, zu reduzieren und zu kontrollieren und ihre Regulierung in diesem Bereich mit denjenigen anderer Staaten zu harmonisieren [§ 441 (3b-c)]. Gemäss dem Rechtsgutachten sind die Staaten ebenfalls dazu verpflichtet, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass anthropogene Treibhausgasemissionen unter ihrer Hoheitsgewalt oder Kontrolle nicht anderen Staaten und deren Umwelt Schaden zufügen [§ 441 (3d)]. Der Seegerichtshof hielt ebenfalls fest, dass diese Massnahmen objektiv, basierend auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen festzulegen seien [§ 441 (3b)]. Dabei seien auch relevante internationale Regelwerke und Standards wie die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen sowie das Pariser Abkommen zu berücksichtigen [§ 441 (3b, f)]. Die Bestimmungen des Pariser Abkommens – insbesondere das Ziel, die Erderwärmung auf 1.5° Celsius zu beschränken – müssen somit bei der Auslegung der im UN-Seerechtsübereinkommen enthaltenen Pflicht, eine Verschmutzung der Meeresumwelt zu vermeiden, berücksichtigt werden.

Obwohl sich das Rechtsgutachten auf Seerecht bezieht, hält es fest, dass die Staaten zur Vermeidung der Verschmutzung und Versauerung der Meere die Treibhausgasemissionen auch auf dem Land und in der Atmosphäre und nicht nur auf hoher See reduzieren müssen [§ 441 (e)]. Das Rechtsgutachten verankert ebenfalls eine Pflicht der Staaten, sicherzustellen, dass nichtstaatliche Akteure, die ihrer Hoheitsgewalt oder Kontrolle unterliegen, Maßnahmen zur Vermeidung, Verringerung und Kontrolle der Verschmutzung durch Treibhausgase einhalten [§ 396]. Zudem stellt es Standards für Umweltverträglichkeitsprüfungen auf und verpflichtet Staaten zu deren Durchführung [§§ 367, 441 (3l)]. Schliesslich werden Industriestaaten verpflichtet, gefährdete Entwicklungsländer insbesondere durch Kapazitätsaufbau, wissenschaftlichem Fachwissen und Technologietransfer zu unterstützen und sie im Rahmen einer solchen internationalen Zusammenarbeit bevorzugt zu behandeln [§§ 337-339, 441 (3k)].

Hält ein Staat diese Verpflichtungen nicht ein, könnten alle anderen Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, ein Gerichtsverfahren gestützt auf das UN-Seerechtsübereinkommen vor dem ISGH gegen den säumigen Staat einleiten. Das Rechtsgutachten des ISGH ist zwar nicht bindend, zeigt aber, wie der ISGH das UN-Seerechtsübereinkommen in Bezug auf den Klimawandel auslegt und welche Verpflichtungen die Staaten aufgrund dieses Übereinkommens zu befolgen haben. 

Ausserdem sendet der ISGH damit ein Signal an den International Gerichtshof (IGH) in Den Haag, welcher derzeit ebenfalls ein Rechtsgutachten zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Bereich des Klimaschutzes erstellt. Dies unter anderem auch dadurch, dass der ISGH das von vielen Staaten vorgebrachte Argument, sie seien bereits durch das Pariser Abkommen zu Massnahmen gegen den Klimawandel verpflichtet, was eine lex specialis gegenüber ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des UN-Seerechtsübereinkommens darstelle, nicht akzeptierte [§§ 222-224]. Auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte erarbeitet derzeit ein Rechtsgutachten zum Klimawandel im Kontext der Menschenrechte, welches die Verpflichtungen der betroffenen Staaten in diesem Bereich präzisieren wird. Das Rechtsgutachten des ISGH könnte nicht nur die Gutachten dieser beiden Gerichtshöfe, sondern auch andere Rechtsstreitigkeiten auf nationaler und internationaler Ebene beeinflussen.

Das Rechtsgutachten des ISGH findet sich hier.

Alexandra Glarner

Gutheissung einer Klage wegen Greenwashing gegen die niederländische Airline KLM 

Im März 2024 entschied das Bezirksgericht Amsterdam aufgrund einer Klage der Organisation Fossielvrij, dass die Airline KLM (der niederländische Teil des Unternehmens Air France-KLM) ihre Kund:innen durch vage Angaben bezüglich der Nachhaltigkeit ihrer Flugreisen in die Irre geführt hat.

In Bezug auf die Mehrheit der strittigen, die Umwelt betreffenden Äusserungen entschied das Gericht, dass KLM wegen irreführender Werbung gegen das EU-Verbraucherschutzrecht verstossen hat. Dazu gehören Behauptungen, dass sich die Fluggesellschaft auf eine nachhaltigere Zukunft zubewege. Diese Aussagen seien zu vage, da nicht erklärt wurde, inwiefern das Fliegen mit KLM einen Nutzen für die Umwelt habe. Das Gericht hielt ebenfalls fest, dass KLM mit Äusserungen über die Nutzung von nachhaltigem Treibstoff sowie über die Kompensation der CO2-Emissionen eines Fluges durch das Pflanzen von Bäumen ein «zu rosiges Bild» gezeichnet hat. Da diese Massnahmen die umweltschädlichen Emissionen des Flugverkehrs nur wenig verringern können, stufte das Gericht solche Aussagen als irreführend ein.

Das Gericht hielt jedoch ebenfalls fest, dass KLM nicht vor den umweltschädlichen Auswirkungen der Flüge warnen oder bisherige Behauptungen richtigstellen muss. Wenn die Airline jedoch über ihre Pläne, Emissionen zu reduzieren berichtet, müssen diese Behauptungen ehrlich und konkret sein.

Eine Sprecherin von KLM sagte, dass die Airline die umstrittenen Äusserungen schon länger nicht mehr in ihrer Kommunikation verwendet habe. Ausserdem begrüsse die Fluggesellschaft, dass das Gericht die Vorschriften bezüglich der Transparenz in der Kommunikation mit ihren Kunden konkretisiert hätte, ohne ihnen eine Schadenersatzzahlung aufzuerlegen.

Obwohl sie diesen Entscheid als historischen Sieg bezeichneten, erklärten die Kläger:innen, dass der Kampf gegen Greenwashing schwierig sei, da oft verschiedene Kampagnen parallel im Gang seien. Ausserdem könne nur dagegen vorgegangen werden, wenn bereits Schaden angerichtet wurde, da die Werbungen von der Zielgruppe gesehen worden seien. Da Fälle von Greenwashing jedoch oft mediale Aufmerksamkeit geniessen, können sie abschreckend wirken und somit zu einer systemischen Veränderung beitragen. 

Auch in der Schweiz gab es bereits Verfahren wegen Greenwashing: Insbesondere hiess die Schweizerische Lauterkeitskommission eine Beschwerde gegen die FIFA bezüglich der behaupteten Klimaneutralität der Fussballweltmeisterschaft in Qatar gut. Auch andere Beschwerden wurden gutheissen, dies beispielsweise bezüglich Heizöl bzw. Säuglingsnahrung, die als «klimaneutral» bzw. «klimapositiv» bezeichnet wurden.

Siehe für den Artikel von «The Guardian hier; für den Artikel im «Spiegel» hier; für den Artikel von «The Washington Post» hier; für die Stellungnahme von «ClientEarth» hier.

Alexandra Glarner

Zulassung einer haftpflichtrechtlichen Klage gegen klimaschädliche Unternehmen durch den neuseeländischen Supreme Court 

Im August 2019 reichte Michael John Smith[1] Klage gegen sieben neuseeländische Unternehmen ein, die im Landwirtschafts- und Energiesektor tätig sind und alle hohe CO2-Emissionen verursachen bzw. mit fossilen Brennstoffen handeln. Seine Klage richtet sich unter anderem gegen den Milchwirtschaftskonzern Fonterra, die Ölraffinerie NZ Refining Company und die Gesellschaft Z Energy. Smith argumentiert, dass die Handlungen der Beklagten eine Störung der öffentlichen Ordnung (public nuisance), Fahrlässigkeit (negligence) und einen Verstoß gegen die Pflicht, nicht weiter zum Klimawandel beizutragen (breach of duty to cease contributing to climate change) darstellen.[2] Für letztgenannten Beschwerdegrund besteht nach neuseeländischem Recht keine Anspruchsgrundlage.

Smith behauptet, dass die Beklagten wesentlich zur Klimakrise beitrügen und Orte, die für ihn und seine Gemeinschaft (whānau) von traditioneller, kultureller, historischer, ernährungsbezogener und spiritueller Bedeutung seien, schädigten.[3] Mit seiner Klage verlangt Smith die Feststellung, dass die beklagten Unternehmen (individuell oder zusammen) rechtswidrig eine Pflicht ihm gegenüber verletzt haben; die öffentliche Ordnung gestört oder zu einer solchen Störung beigetragen haben und dass sie ihm durch ihre Handlungen einen Schaden zugefügt haben. Ausserdem beantragt Smith, dass die Unternehmen dazu verpflichtet werden, im Jahr 2024 den Höchststand ihrer Emissionen zu erreichen und diese in den nachfolgenden Jahrzehnten linear zu verringern, um im Jahr 2050 keine Netto-Emissionen mehr zu verursachen.[4]

Im März 2020 wies der Neuseeländische High Court als erste Instanz die ersten beiden Beschwerdegründe ab, liess jedoch den letzten Beschwerdegrund – den Verstoss gegen die Pflicht, nicht weiter zum Klimawandel beizutragen – zu.[5] Dagegen legten sowohl der Kläger als auch die Beklagten Beschwerde ein, worauf der neuseeländische Court of Appeal als zweite Instanz Smith’s Berufung vollumfänglich abwies.[6] Dies unter anderem mit der Begründung, dass das Ausmass und die Komplexität der durch den Klimawandel verursachten Krise regulatorische Massnahmen verlange und nicht durch haftpflichtrechtliche Klagen gelöst werden könne.[7]

Daraufhin gelangt Smith an den Supreme Court in Neuseeland. Er argumentiert, dass seine Klage haftpflichtrechtlicher Natur sei; die Beklagten schädigten ihn und er ersuche die Gerichte deshalb darum, diese Handlungen zu stoppen.[8]

Die Beschwerdegegnerinnen hingegen argumentieren, dass sich weder das Haftpflichtrecht, noch die Institution des Gerichts dazu eigne, mit einem systemischen Problem wie dem Klimawandel umzugehen. Dies müsse vielmehr dem Parlament überlassen werden; jenes habe dieses Thema bereits adressiert und gesetzgeberische Antworten gefunden. Sie machen ebenfalls geltend, dass der Klimawandel aus haftpflichtrechtlicher Sicht unüberwindbare Probleme schaffe, dies insbesondere mit Bezug auf die Bedingungen der Klageberechtigung sowie der Kausalität. Sie fügen dem an, dass eine solche Rechtsentwicklung zu endloser Haftung für Beklagte führen würde und die Wirtschaft drastisch belasten könnte.[9]

Trotz der Argumente der Beschwerdegegnerinnen entschied der Supreme Court, Smith’s Klage zu einer Gerichtsverhandlung zuzulassen. In seiner Begründung führte das Gericht unter anderem Folgendes aus: Das Parlament habe durch seine legislative Tätigkeit in diesem Bereich weiterhin Platz für richterliche Entwicklungen der Rechtsordnung (des common laws) gelassen.[10] Ausserdem sei es trotz des enormen Ausmasses des Klimawandels möglich, menschliche Handlungen, die zu diesem Phänomen beitragen, auf ihre Rechtswidrigkeit hin zu untersuchen.[11] Das Gericht zieht zudem Parallelen zu der industriellen Revolution, in der Gerichte ebenfalls neues Recht schufen, was anschliessend von der gesetzgeberischen Gewalt wo nötig korrigiert wurde.[12] Folglich ist es gemäss dem obersten Gericht nicht gerechtfertigt, die Klage ohne weitere Abklärungen und Beweisabnahmen abzuschreiben; insbesondere der haftpflichtrechtliche Umgang mit kumulativer Kausalität müsse genauer untersucht werden.[13] Das Gericht betont jedoch, dass in diesem Verfahrensstadium noch nicht gesagt werden kann, ob Smith schliesslich obsiegen wird.[14]

Siehe für den Entscheid hier.


[1] Michael John Smith ist ein Stammesältester der Maori Stämme Ngāpuhi / Ngāti Kahu und Sprecher in Sachen Klimawandel des Iwi Chairs‘ Forum, einem nationalen Forum von Stammesführern.

[2] Smith v Fonterra Co-operative Group Ltd [2024] NZSC 5, [7 February 2024, Supreme Court], Rz. 4.

[3] ibid, Rz. 3.

[4] ibid, Rz. 4.

[5] Smith v Fonterra Co-operative Group Ltd [2020] NZHC 419, [2020] 2 NZLR 394 [High Court].

[6] Smith v Fonterra Co-operative Group Ltd [2021] NZCA 552, [2022] NZLR 284 (French, Cooper and Goddard JJ) [Court of Appeal].

[7] ibid, Rz. 16. 

[8] Smith v Fonterra Co-operative Group Ltd [2024] NZSC 5, [7 February 2024, Supreme Court], Rz. 10.

[9] ibid, Rz. 11.

[10] ibid, Rz. 101.

[11] ibid, Rz. 155.

[12] ibid, Rz. 156.

[13] ibid, Rz. 155, 166.

[14] ibid, Rz. 1-2. 

Alexandra Glarner