Am 21. Mai 2024 veröffentlichte der Internationale Seegerichtshof (ISGH) sein Rechtsgutachten zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten aufgrund des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (UN-Seerechtsübereinkommen) in Bezug auf den Klimawandel.

Das Rechtsgutachten wurde durch die Kommission der kleinen Inselstaaten für Klimawandel und Völkerrecht (COSIS) beantragt, welche Inseln wie Tuvalu, Palau, Vanuatu sowie Antigua und Barbuda zu ihren Mitgliedern zählt. Es befasst sich mit mehreren fundamentalen Fragen zur Anwendung des UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 im Zusammenhang mit dem Klimawandel, einschliesslich der Wechselwirkung zwischen diesem Übereinkommen und den anderen Abkommen im Bereich des Klimaschutzes und präzisiert die Verpflichtungen der Staaten unter dem UN-Seerechtsübereinkommen in Bezug auf die Reduktion des Ausstosses von klimaschädlichen Treibhausgasen. Das UN-Seerechtsübereinkommen wurde von 169 Parteien ratifiziert, unter anderem durch die EU, China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika. 

Der ISGH hielt in seinem Rechtsgutachten einstimmig fest, dass Treibhausgase zur Versauerung und Erwärmung der Meere beitragen und somit eine Verschmutzung der Meeresumwelt gemäss Artikel 1(1(4)) des UN-Seerechtsübereinkommen darstellen [§ 441 (3a)]. Der ISGH statuiert darin zudem eine strenge Sorgfaltspflicht der Staaten, den Ausstoss von Treibhausgasen soweit möglich zu verhindern, zu reduzieren und zu kontrollieren und ihre Regulierung in diesem Bereich mit denjenigen anderer Staaten zu harmonisieren [§ 441 (3b-c)]. Gemäss dem Rechtsgutachten sind die Staaten ebenfalls dazu verpflichtet, alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass anthropogene Treibhausgasemissionen unter ihrer Hoheitsgewalt oder Kontrolle nicht anderen Staaten und deren Umwelt Schaden zufügen [§ 441 (3d)]. Der Seegerichtshof hielt ebenfalls fest, dass diese Massnahmen objektiv, basierend auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen festzulegen seien [§ 441 (3b)]. Dabei seien auch relevante internationale Regelwerke und Standards wie die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen sowie das Pariser Abkommen zu berücksichtigen [§ 441 (3b, f)]. Die Bestimmungen des Pariser Abkommens – insbesondere das Ziel, die Erderwärmung auf 1.5° Celsius zu beschränken – müssen somit bei der Auslegung der im UN-Seerechtsübereinkommen enthaltenen Pflicht, eine Verschmutzung der Meeresumwelt zu vermeiden, berücksichtigt werden.

Obwohl sich das Rechtsgutachten auf Seerecht bezieht, hält es fest, dass die Staaten zur Vermeidung der Verschmutzung und Versauerung der Meere die Treibhausgasemissionen auch auf dem Land und in der Atmosphäre und nicht nur auf hoher See reduzieren müssen [§ 441 (e)]. Das Rechtsgutachten verankert ebenfalls eine Pflicht der Staaten, sicherzustellen, dass nichtstaatliche Akteure, die ihrer Hoheitsgewalt oder Kontrolle unterliegen, Maßnahmen zur Vermeidung, Verringerung und Kontrolle der Verschmutzung durch Treibhausgase einhalten [§ 396]. Zudem stellt es Standards für Umweltverträglichkeitsprüfungen auf und verpflichtet Staaten zu deren Durchführung [§§ 367, 441 (3l)]. Schliesslich werden Industriestaaten verpflichtet, gefährdete Entwicklungsländer insbesondere durch Kapazitätsaufbau, wissenschaftlichem Fachwissen und Technologietransfer zu unterstützen und sie im Rahmen einer solchen internationalen Zusammenarbeit bevorzugt zu behandeln [§§ 337-339, 441 (3k)].

Hält ein Staat diese Verpflichtungen nicht ein, könnten alle anderen Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, ein Gerichtsverfahren gestützt auf das UN-Seerechtsübereinkommen vor dem ISGH gegen den säumigen Staat einleiten. Das Rechtsgutachten des ISGH ist zwar nicht bindend, zeigt aber, wie der ISGH das UN-Seerechtsübereinkommen in Bezug auf den Klimawandel auslegt und welche Verpflichtungen die Staaten aufgrund dieses Übereinkommens zu befolgen haben. 

Ausserdem sendet der ISGH damit ein Signal an den International Gerichtshof (IGH) in Den Haag, welcher derzeit ebenfalls ein Rechtsgutachten zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten im Bereich des Klimaschutzes erstellt. Dies unter anderem auch dadurch, dass der ISGH das von vielen Staaten vorgebrachte Argument, sie seien bereits durch das Pariser Abkommen zu Massnahmen gegen den Klimawandel verpflichtet, was eine lex specialis gegenüber ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des UN-Seerechtsübereinkommens darstelle, nicht akzeptierte [§§ 222-224]. Auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte erarbeitet derzeit ein Rechtsgutachten zum Klimawandel im Kontext der Menschenrechte, welches die Verpflichtungen der betroffenen Staaten in diesem Bereich präzisieren wird. Das Rechtsgutachten des ISGH könnte nicht nur die Gutachten dieser beiden Gerichtshöfe, sondern auch andere Rechtsstreitigkeiten auf nationaler und internationaler Ebene beeinflussen.

Das Rechtsgutachten des ISGH findet sich hier.

Alexandra Glarner