Am 29. März 2023 beantragte die UNO-Generalversammlung beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ein Rechtsgutachten betreffend die Verpflichtungen der Staaten in Bezug auf den Klimawandel. Es ist das erste Mal, dass sich das höchste Gericht der Welt mit dieser Thematik auseinandersetzt und klären wird, welche Verpflichtungen der Staaten sich aus verschiedenen völkerrechtlichen Rechtsquellen ergeben. Nach Abschluss der schriftlichen Phase fanden vom 2. bis zum 13. Dezember 2024 öffentliche Anhörungen dazu in Den Haag statt. Daran beteiligten sich eine rekordhohe Anzahl von 96 Staaten und 11 Organisationen.
Das Rechtsgutachten wird die zwei von der Generalversammlung gestellten Fragen beantworten, die sie in ihrer Resolution übermittelte: Erstens sollte der IGH klären, welche völkerrechtlichen Verpflichtungen den Staaten im Zusammenhang mit dem Schutz des Klimasystems und anderer Teile der Umwelt vor anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen gegenüber Staaten sowie gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zukommen. Die zweite Frage zielte auf die Rechtsfolgen für Staaten ab, welche dem Klima und anderen Teilen der Umwelt erheblichen Schaden zugefügt haben, insbesondere in Bezug auf kleinere Inselstaaten sowie Völker und Individuen heutiger und zukünftiger Generationen, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind bzw. sein werden. Es handelt sich folglich um zwei sehr generelle Fragen, die eine Vielzahl von weiteren Fragen aufwerfen.
Folglich umfassten auch die Beiträge der Staaten verschiedene Punkte, wobei sich grob zwei Lager unterscheiden lassen. Kleinere Staaten des globalen Südens – insbesondere Inselstaaten – argumentieren folgendermassen: erstens ergeben sich sowohl aus völkerrechtlichen Verträgen als auch aus Völkergewohnheitsrecht Verpflichtungen im Klimabereich, die einzelnen Staaten zugerechnet werden können. Ausserdem sei das völkergewohnheitsrechtliche Schädigungsverbot («no harm rule») auch auf den Klimawandel anwendbar. Zweitens könne die Kausalität zwischen dem Ausstoss von Emissionen und den Auswirkungen des Klimawandels wissenschaftlich nachgewiesen werden. Drittens sollten auch die Menschenrechte – insbesondere das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt – bei der Auslegung der völkerrechtlichen Verpflichtungen berücksichtigt werden. Viertens müsse dabei auch den historischen Emissionen der Industriestaaten Rechnung getragen werden, da diese im Wissen um die schädlichen Folgen von Treibhausgasemissionen jahrzehntelang untätig geblieben seien. Schliesslich fänden sich im bestehenden Völkerrecht verschiedene Rechtsfolgen, wie bspw. Kompensationspflichten, die vorliegend anwendbar seien.
Diesen Argumenten entgegnen Staaten wie bspw. Russland, China, die USA, Saudi Arabien, das Vereinigte Königreich, Kanada, Deutschland, Australien und weitere, dass sich das auf den Klimawandel anwendbare Völkerrecht nur aus den spezifischen Verträgen (als «lex specialis») ergibt und anderes Völkerrecht wie das Recht der Staatenverantwortlichkeit oder die Menschenrechte nicht – oder nur subsidiär – anwendbar ist. Zweitens sei das obengenannte Schädigungsverbot nicht anwendbar und die Kausalität im Klimabereich könne nicht abschliessend festgestellt werden. Drittens argumentieren einige dieser Staaten, dass sie nur für Emissionen verantwortlich seien, die ab dem Inkrafttreten von Klimaabkommen ausgestossen worden seien. Viertens wurde teilweise argumentiert, dass das Pariser Abkommen primär politischer Natur sei und Lösungen für die Klimakrise weiterhin kollektiv auf dem politischen Weg gefunden werden sollten, eine individuelle Verantwortlichkeit der Staaten also unter geltendem Völkerrecht nicht denkbar ist. Schliesslich sollten die Fragen der UNO-Generalversammlung eng ausgelegt werden, was ebenfalls auf menschenrechtliche Verpflichtungen in Bezug auf den Klimawandel zutrifft – eine Anwendbarkeit von Rechten zukünftiger Generationen sei in diesem Zusammenhang eher abzulehnen.
Wie die Richter:innen diese Fragen beantworten werden, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, es ist jedoch begrüssenswert, dass sich trotz Uneinigkeit viele Staaten für eine Stärkung der völkerrechtlichen Verpflichtungen im Klimabereich aussprachen.
Erwähnenswert ist auch, dass das Rechtsgutachten des Internationalen Seegerichtshofs sowie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall KlimaSeniorinnen[1] immer wieder Erwähnung fanden – dies illustriert die Bedeutung solcher Urteile bzw. Rechtsgutachten. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch zu erwähnen, dass die Schweiz, gegen die das Urteil des EGMR gerichtet war, das KlimaSeniorinnen-Urteil nicht erwähnte. Sie schien, sich davon distanzieren zu wollen, indem ihre Vertreter:innen betonten, dass aufgrund des aktuellen Völkerrechts keine Verpflichtung der Staaten bestehe, ein bestimmtes Emissionsbudget zu definieren und einzuhalten.[2] Dass die Schweiz kein Treibhausgasbudget festgesetzt hatte, war einer der Aspekte, die den EGMR zur Feststellung einer Verletzung von Art. 8 EMRK führten.[3] Es erscheint stossend, dass die Schweiz in internationalen Foren Ausführungen macht, die im Gegensatz zu diesem für sie bindenden Urteil stehen.
Die öffentlichen Anhörungen endeten mit vier Fragen von Richter:innen[4]: Die erste Frage hatte den Umfang der Verpflichtung von Staaten, in deren Hoheitsgebiet Treibhausgase hergestellt werden, zum Gegenstand. Die zweite Frage betraf die Auslegung von Art. 4 des Pariser Abkommens, insbesondere ob der Gegenstand und das Ziel des Pariser Abkommens darauf Auswirkungen haben. Die dritte Frage betraf den Inhalt des Rechts auf eine saubere und gesunde Umwelt sowie dessen Beziehung zu anderen Menschenrechten, welche für den Klimaschutz relevant sind. Zuletzt fragte eine Richterin, welche Bedeutung die Erklärungen einiger Staaten haben, die der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und dem Pariser Abkommen unter der Voraussetzung beigetreten sind, dass keine Bestimmungen in diesen Übereinkommen als Abweichung von Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts oder als Ansprüche oder Rechte auf Entschädigung oder Haftung aufgrund der nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels ausgelegt werden können. Diese Fragen konnten von allen Delegationen beantwortet werden, die dies wünschten. Sie zeigen, dass sich die Richter:innen detailliert mit der Materie auseinandergesetzt haben.
Dieses Rechtsgutachten ist zwar nicht bindend für die Staaten, zeigt aber auf, wie der IGH das Völkerrecht in Bezug auf den Klimawandel auslegt. Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sowohl in Bezug auf Streitigkeiten vor diesem Gericht als auch vor nationalen sowie anderen internationalen Gerichten eine grosse Rolle spielen wird. Ebenfalls könnte es zur Weiterentwicklung des Völkerrechts führen. Experten sprechen deshalb von einem historischen Verfahren. Nun beginnt die Beratung des Gerichts. Wann das Rechtsgutachten veröffentlicht wird, steht noch nicht fest, es könnte aber bereits im 2025 sein. In diesem Jahr erwartet wird auch das Rechtsgutachten des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welches ebenfalls den Klimawandel betrifft.
Für die Protokolle der Anhörungen siehe hier. Für eine Zusammenfassung der Anhörungen siehe hier. Für eine Diskussion der Anhörungen siehe hier. Für die Diskussion der ersten beidem Fragen der Richter:innen siehe hier. Für weitere Informationen zum Hintergrund des Verfahrens siehe hier. Für weitere Informationen zu den schriftlichen Stellungnahmen siehe hier.
Alexandra Glarner
[1] Vgl. bspw. das Protokoll der Anhörungen vom 4. Dezember 2024, 3 p.m. (CR 2024/40), insbesondere die Ausführungen der Vertreter:innen von Fiji (S. 73, N 29), Ecuador (bspw. S. 19, N 11; S. 20, N 17; S. 25, N 17; S. 27 4 f.) und Spanien (S. 32, N 6 f.; S. 37, N 15) <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20240412-ora-02-00-en.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).
[2] Vgl. Das Protokoll der Anhörung vom 11. Dezember 2024, 3 p.m. (CR 2024/50), S. 52, N 32 ff., <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20241211-ora-02-00-bi.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).
[3] Verein Klimaseniorinnen Schweiz und Andere gegen die Schweiz, 9. April 2024, Nr. 53600/20 (GK), § 550(a), § 570 ff.
[4] Vgl. Das Protokoll der Anhörung vom 13. Dezember, 3 p.m. (CR 2024/54), S. 39 ff., <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/187/187-20241213-ora-02-00-bi.pdf> (zuletzt besucht am 27.12.2024).