Am 28. Oktober 2025 fällte die Zweite Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ihr einstimmiges Urteil in der Rechtssache Greenpeace Nordic and Others v. Norway. Die Beschwerde richtete sich gegen die Entscheidung der norwegischen Behörden aus dem Jahr 2016, mit der zehn Erdölförderlizenzen in der Barentssee vergeben worden waren. Die Beschwerdeführer – sechs Einzelpersonen (darunter drei Angehörige des indigenen Volkes Sámi) sowie die Umweltorganisationen Greenpeace Nordic und Young Friends of the Earth Norway – machten geltend, die Lizenzvergabe verstosse gegen Norwegens Verpflichtungen im Bereich des Klimaschutzes und verletze ihr Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) sowie ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Ebenfalls machten sie eine Verletzung von Art. 13 und Art. 14 EMRK geltend.
Nach einer umfassenden rechtsvergleichenden Untersuchung, in welcher der EGMR unter anderem verschiedene Rechtsgutachten namentlich des Internationalen Seegerichtshofs, des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Internationalen Gerichtshofs zusammenfasste, stellte er zunächst klar, dass der Streitgegenstand vorliegend eng zu verstehen sei: Es gehe um „ein angeblich fehlerhaftes Entscheidungsverfahren in einer bestimmten Runde der Lizenzvergabe zur Erdölexploration“, da nur dies Inhalt des Verfahrens auf nationaler Ebene war [§ 282]. Damit betraf der Fall die prozeduralen Pflichten des Staates und nicht seine inhaltliche Klimapolitik – dies im Gegensatz zum Fall der KlimaSeniorinnen [§ 283]. Der EGMR prüfte die Beschwerde ausschliesslich unter Art. 8 EMRK und lehnte eine separate Prüfung unter Art. 2 EMRK ab [§ 284].
In der Prüfung der Zulässigkeit der Beschwerde wendete der Gerichtshof die im Urteil Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland entwickelten Massstäbe an [§§ 286-288, 290]. Die sechs Einzelpersonen konnten die strengen Voraussetzungen für den Opferstatus nicht erfüllen: Ihre persönliche Betroffenheit erreiche nicht die erforderliche „hohe Intensität“, und auch psychische Belastungen wie Klimaangst oder -trauer wurden vom Gerichtshof zwar ernst genommen, seien jedoch vorliegend nicht mit medizinischen Gutachten belegt und der negative Effekt auf die psychische Gesundheit deshalb nicht hinreichend bewiesen worden [§§ 303-305]. Dagegen erkannte der EGMR den beiden Umweltorganisationen eine vertretende Beschwerdebefugnis zu, da sie rechtmässig gegründet sind, sich dem Schutz der Klima- und Umweltrechte widmen und repräsentativ für die betroffenen Gruppen sind. Der Gerichtshof bezeichnete sie als „kollektives Mittel zur Verteidigung der Rechte und Interessen von Einzelpersonen gegen die Bedrohungen des Klimawandels“ [§§ 308-310].
In der materiellen Prüfung bekräftigte der EGMR, dass Artikel 8 EMRK die Staaten verpflichtet, Menschen wirksam vor schwerwiegenden Folgen des Klimawandels für Leben, Gesundheit und Lebensqualität zu schützen, indem sie ein angemessenes rechtliches und administratives System schaffen [§ 314]. Zwar verfügten sie dabei über einen weiten Ermessensspielraum, doch müsse dem Klimaschutz im Interessenausgleich erhebliches Gewicht zukommen, da: Treibhausgasemissionen Wirkung auf globaler Ebene haben, die Staaten bisher generell angesichts der Risiken nicht adäquat gehandelt haben und gemäss dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) nur ein „rapidly closing window of opportunity“ verbleibt, um gefährliche Klimaauswirkungen zu vermeiden [§ 315-316]. Dabei wird jedoch die in § 543 des KlimaSeniorinnen Urteils etablierte Unterscheidung zum Ermessensspielraum der Staaten nur zur Hälfte angewendet: im Gegensatz zu der Wahl der Mittel in der Umsetzung von Klimazielen ist der Ermessensspielraum der Staaten in Bezug auf die Festlegung der erforderlichen Ziele und Vorgaben im Klimabereich nämlich gering. Dieser Aspekt wurde vom EGMR nicht mehr aufgegriffen, obwohl die Genehmigung von Erdölexploration natürlich auch einen Einfluss auf die Erreichung der Klimaziele, insbesondere des 1.5° C Zieles, hat.
Das Gericht präzisierte anschliessend, wie Artikel 8 in verfahrensrechtlicher Hinsicht anzuwenden ist. Der EGMR stellte klar, dass Staaten vor der Genehmigung einer Aktivität, die erheblich zum Klimawandel beitragen könnte, eine rechtzeitige, umfassende und wissenschaftlich fundierte Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen müssen [§ 318]. Diese müsse unter anderem die erwarteten Treibhausgasemissionen quantifizieren, einschliesslich „downstream emissions“ (scope 3) aus der späteren Verbrennung; die Vereinbarkeit mit nationalen und internationalen Klimaverpflichtungen prüfen; und eine informierte öffentliche Konsultation sicherstellen, die zu einem Zeitpunkt stattfindet, wenn alle Optionen noch offen sind und die Verschmutzung realistischerweise noch verhindert werden kann [§ 319]. Obwohl dies eine wichtige Weiterentwicklung der Rechtsprechung des EGMR darstellt, wurde der ausschliessliche Fokus auf prozedurale Fragen kritisiert (vgl. hier und hier).
Auf den norwegischen Fall angewendet, stellte der Gerichtshof fest, dass die strategische Umweltverträglichkeitsprüfung (SEA) von 2016 unvollständig gewesen sei, da sie die Verbrennungsemissionen nicht berücksichtigt habe [§ 330]. Dennoch verneinte er eine Verletzung von Art. 8 EMRK, da das norwegische Recht ein mehrstufiges Verfahren vorsieht, das die menschenrechtlichen Anforderungen erfüllt: Erstens begründet die Erteilung einer Explorationslizenz keine automatische Fördererlaubnis [§ 331]. Zweitens muss vor der tatsächlichen Förderung ein „Plan for Development and Operation“ (PDO) genehmigt werden, der eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung einschliesslich Klimaauswirkungen und öffentlicher Beteiligung umfasst [§§ 332-334]. Drittens haben betroffene Personen und Organisationen Zugang zu Umweltinformationen sowie die Möglichkeit, sich an der Entscheidungsfindung in der PDO-Phase zu beteiligen, die vor Beginn der Förderung zudem einer administrativen und gerichtlichen Kontrolle unterliegt [§§ 333-334, 336].
Damit, so der EGMR, genüge das norwegische System als Ganzes den verfahrensrechtlichen Anforderungen von Artikel 8, auch wenn die Prüfung auf der Stufe der Lizenzierung unvollständig war [§§ 336-337]. Der Gerichtshof fand keine Anzeichen für fehlenden guten Glauben der norwegischen Behörden oder für strukturelle Mängel, die eine spätere Korrektur unmöglich machten – insbesondere auch, da jede UVP laut Gesetz auf relevanten, aktuellen und ausreichenden Informationen beruhen muss. Ausserdem müssten gemäss der anwendbaren UVP-Richtlinie die kumulierten Treibhausgasemissionen aller dieser Projekte berücksichtigt werden – dies kann also nicht für individuelle Projekte erfolgen.
Auch die weiteren Rügen waren erfolglos. Die Beschwerde wegen Diskriminierung (Art. 14 EMRK) wurde als unzulässig erklärt, da sie innerstaatlich nicht geltend gemacht worden war [§ 351]. Die Rüge einer Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) wies der EGMR als offensichtlich unbegründet ab: Die norwegischen Gerichte hätten sich hinreichend mit den Argumenten befasst, und ihre Überprüfungsbefugnisse seien nicht eingeschränkt gewesen [§ 363, 366].
Mit diesem Urteil konkretisiert der EGMR die im KlimaSeniorinnen-Urteil entwickelte Rechtsprechung weiter. Das Urteil Greenpeace Nordic and Others v. Norway unterstreicht die Bedeutung effektiver, transparenter und partizipativer Verfahren bei klimarelevanten Entscheidungen, zeigt aber zugleich, dass der Gerichtshof nationale Klimapolitiken nur dann beanstandet, wenn diese Verfahren unzureichend sind. Der Fall stärkt damit das prozedurale Fundament des Klimaschutzes unter der EMRK und zeigt gleichzeitig die Zurückhaltung des EGMR, in die politische Abwägung zwischen Klima- und Wirtschaftsinteressen der Mitgliedstaaten einzugreifen.
Das Urteil auf Englisch finden Sie hier, die offizielle Zusammenfassung auf Englisch hier. Für mehr Informationen, vgl. hier und hier.
Alexandra Glarner