Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte in einem Urteil vom 30. Januar 2025 fest, dass Italien das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) verletzt hat, indem es die Beschwerdeführer:innen aus der Region Kampanien nicht vor der illegalen Ablagerung und Verbrennung von Abfällen schützte, obwohl das Problem seit Jahren bekannt und weit verbreitet war.[1] Dies wurde oftmals durch organisierte kriminelle Gruppen sowie auf privatem Land durchgeführt. Die Verschmutzung, die durch diese Praktiken entstand, betrifft eine Region, die wegen der häufigen Müllverbrennungen auch «Terra dei Fuochi» (Land der Feuer) genannt wird und 90 Gemeinden sowie ca. 2.9 Millionen Einwohner umfasst. Die Beschwerdeführer:innen zeigten vor Gericht auf, dass die Verschmutzung zu einer steigenden Anzahl Krebserkrankungen sowie kontaminiertem Trinkwasser führte.
Dieses Urteil ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Einerseits ist es das erste Mal, dass der EGMR ein staatliches Unterlassen, gegen die Umweltverschmutzung vorzugehen, als Verletzung von Art. 2 EMRK qualifizierte (vgl. dazu §§ 383-468). Andererseits führte der Gerichtshof im vorliegenden Fall ein Piloturteilsverfahren gemäss Art. 61 seiner Verfahrensordnung durch (vgl. §§ 487-489; unter Hinweis auf Art. 46 EMRK). Dieses Verfahren ist möglich, wenn sich aus dem der Beschwerde zugrundeliegenden Sachverhalt ergibt, dass in der betroffenen Vertragspartei ein strukturelles oder systembedingtes Problem oder ein vergleichbarer sonstiger Missstand besteht, aufgrund dessen weitere Beschwerden erhoben wurden oder möglich sind. Der Gerichtshof begründete sein Vorgehen damit, dass das Problem der «terra dei fuochi» ein anhaltender Missstand ist, der dem Staat seit Jahrzehnten bekannt ist, die staatliche Reaktion darauf jedoch systemisch mit Mängeln behaftet ist (§ 490). Die grosse Anzahl Menschen, die davon betroffen ist, weitere ähnliche, bereits hängige Fälle und das dringende Bedürfnis, schnell Abhilfe zu schaffen, waren weitere Faktoren, die den Gerichtshof zur Anwendung des Piloturteilverfahrens bewegten (§ 492).
Im Piloturteil wird auch die Art der Abhilfemassnahmen erläutert, welche die betroffene Vertragspartei aufgrund des Urteilsdispositivs auf innerstaatlicher Ebene zu treffen hat (vgl. Art. 61 Abs. (3) Verfahrensordnung des EGMR). In diesem Zusammenhang ordnete der Gerichtshof verschiedene Massnahmen an, welche innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden müssen (§ 501). Erstens sollen die staatlichen Behörden in Abstimmung mit den relevanten lokalen, regionalen und/oder nationalen Akteuren eine Strategie entwickeln, um dieses Problem zu bekämpfen. Diese Strategie soll alle bestehenden oder geplanten Massnahmen zusammenfassen und klare Zeitpläne für die Umsetzung sowie die Festlegung der erforderlichen Mittel und deren Zuweisung an die zuständigen staatlichen Akteure enthalten (§§ 494-498). Zweitens sollen die staatlichen Behörden einen unabhängigen Mechanismus schaffen, der die eingeführten Massnahmen überwacht und die Einhaltung der Zeitpläne bewertet, wobei seine Ergebnisse öffentlich sein müssen (§ 499). Schliesslich soll der Staat eine öffentliche Plattform schaffen, wo alle relevanten Informationen sowie die ergriffenen Massnahmen ersichtlich sind (§ 500).
Dies ist das erste Mal, dass der EGMR im Bereich des Umweltschutzes so klare Massnahmen aufstellt. Gemäss Experten setzt diese Rechtsprechung einen neuen Standard bezüglich der staatlichen Pflicht, die Bevölkerung vor Umweltverschmutzung zu schützen. Insbesondere durch die Anordnung eines Überwachungsmechanismus fordert der EGMR, dass die angeordneten Massnahmen auch effektiv umgesetzt werden. Dieser neue Ansatz könnte auch in zukünftigen Fälle wieder aufgegriffen werden und somit die Verantwortlichkeit der Staaten in Bezug auf den Umweltschutz nachhaltig verändern sowie dazu führen, dass mehr Prozesse in diesem Bereich angestrengt werden.
Vgl. für eine Zusammenfassung des Urteils hier; vgl. ebenfalls hier.
Alexandra Glarner
[1] Cannavacciuolo und Andere gegen Italien, Urteil vom 30. Januar 2025, Nr. 51567/14, 39742/14, 74208/14, 21215/15.